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REISEEINDRÜCKE FÜR KUNST- UND GESCHICHTSINTERESSIERTE
Braunschweig und Wolfenbüttel
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INHALT
- Vom Welfenschatz, dem teuersten Buch der Welt
und einer kostbaren Bibliothek
- Sachsen lag früher ganz im Norden
- Baiern und Sachsen - Das Territorium der Welfen
- Heinrich der Löwe, Gründer von Lübeck, München und Schwerin
(Heinrich der Löwe gegen Friedrich Barbarossa)
Das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg
- Der Welfenschatz - eine Politikum bis heute
- Herzog-August-Bibliothek - wenig bekannt, trotzdem weltbedeutend
- Schloss Wolfenbüttel, ein Schloss aus Holz
und einer kostbaren Bibliothek
Braunschweig und Wolfenbüttel hatten mich seit längerem neugierig gemacht. Von Heinrich dem Löwen hatte ich natürlich schon gehört, auch dass er Welfe war und Gründer bedeutender Städte wie München und Lübeck.
Wolfenbüttel war mir nur namentlich bekannt. Das ist insgesamt nicht viel.
Zusätzlich wurde mein Interesse von ganz unerwarteter Seite angespornt: Bei einem Flug saß eine freundliche Amerikanerin neben mir, wir plauderten munter miteinander und sie erzählte, dass sie gerade ein mehrmonatiges Forschungsprojekt über Literatur der Frührenaissance an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel beendet hatte. Ich fragte sie, ob sie Deutsch könne und sie entpuppte sich als Germanistikprofessorin.
Nachdem die Amerikanerin die Bibliothek als eine Art nationales Kulturerbe bezeichnet hatte, war es mir peinlich, dass ich davon noch nie gehört hatte.
In der Herzog-August-Bibliothek gibt es etliche Buchschätze. Der wichtigste ist sicherlich das Evangeliar Heinrichs des Löwen.
Als dieses Buch im Jahr 1983 bei Southeby's für 32,5 Millionen D-Mark versteigert wurde, war es immerhin eine Nachricht in der Tagesschau wert. Lange Zeit war das Evangeliar das teuerste Buch der Welt.
Die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel
Das Evangeliar Heinrichs des Löwen, Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel
Das Geld für den Kauf des Evangeliars wurde zusammengetragen von den Ländern Niedersachsen und Bayern, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Bundesrepublik Deutschland, den jetzigen Eigentümern des Buches. Aufbewahrt wird das Manuskript in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. (Wenn du wissen willst, wo und von wem das Buch hergestellt wurde, klick hier, dann kommst du zum Post "Brüder-Grimm-Land", nach Helmarshausen an der Diemel in Nordhessen. Dort sieht man den Künstler in Form einer Bronzeplastik.)
Ebenfalls interessant ist der Welfenschatz, der ursprünglich in Braunschweig beheimatet war. Im Jahr 2021 wurde er zum Gegenstand eines Gerichtsprozesses zwischen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und amerikanischen Nachfahren deutsch-jüdischer Kunsthändler, der vor dem US Supreme Court landete mit einer Streitwertsumme von immerhin 200 Millionen Euro - von dem kulturhistorischen Wert und der politischen Dimension ganz zu schweigen. Dazu später mehr.
Wie auch immer - spannend und Grund genug, in das Land der Welfen, nach Niedersachsen zu reisen.
Sachsen lag früher ganz im Norden
Gustav Droysen: Heiliges Römisches Reich um 1000, Herzogtum Sachsen, Allgemeiner historischer Handatlas, 1886, Lizenz: gemeinfrei
Altsachsen - Stammesherzogtum Sachsen
Altsachsen liegt im Norden Deutschlands, grenzte an Jütland und hat territorial mit dem heutigen Bundesland Sachsen im Südosten nur sehr indirekt zu tun.
Um das Jahr 1000 verlief die nördliche Grenze von der Schlei, wo einstmals die Stadt Haithabu lag, durch das heutige Südschleswig entlang dem Danewerk, einer mittelalterlichen Grenzbefestigung bis zu Eider und von dort bis zur Eidermündung in die Nordsee. Im Osten verlief die Grenze von der Schlei bis zur Kieler Förde an der Ostseeküste entlang, verließ dann die Küste und verlief Richtung Süden entlang des Limes Saxonicus, bis sie im Wendland auf die Elbe stieß. Von dort ging sie die Elbe entlang bis zur Mündung der Saale, die die südöstliche Grenze, bis nach Naumburg zur Unstrut-Mündung bildete. Der Unterlauf der Unstrut bildete die Grenze, die im weiteren Verlauf nördlich vom Thüringer Becken bis zum heutigen Hannoversch Münden führte. Weiter ging es nördlich an Hessen entlang. Kassel, die Eder und Fritzlar liegen etwas südlich der ehemaligen Grenze, die dann ins heutige Nordrhein-Westfalen weiterführt, über das Hochsauerland ungefähr an Schmallenberg und Attendorn entlang, um dann ungefähr am heutigen Lüdenscheid und Hagen vorbei zu führen. Das heutige Siegerland gehörte nicht zu Altsachsen. Den Rhein berührte die Grenze nie, sie verlief östlich davon Richtung Norden, östlich von Arnheim und im weiteren Verlauf westlich von der Ems bis Friesland, die Nordseeküste erreicht die Grenze aber erst an der Elbemündung, denn südwestlich davon war die gesamte Küste friesisches Territorium. Ab der Elbemündung bildete dann die Nordseeküste die Grenze bis hoch zur Eidermündung.
Das Territorium der Welfen -
Baiern und Sachsen
Die Dynastie der Welfen war an drei Orten im Heiligen Römischen Reich vertreten: Angefangen hatte alles mit der älteren Linie im 9. Jahrhhundert in der moselfränkischen Gegend. Wichtiger wurde aber die jüngere Linie im 11. Jahrhundert mit den Herrschaftsgebieten Sachsen und Baiern. Der prominenteste Welfenherrscher war vielleicht Heinrich der Löwe. Er erbte ein großes Territorium, denn bereits sein Urgroßvater war Herzog von Baiern, sein Großvater heiratete nach Sachsen, wodurch sich das Territorium deutlich vergrößerte.
Von Droysen/Andrée; Th.Lindner rev. - Inset from plate 26/27 of Professor G. Droysens Allgemeiner Historischer Handatlas, published by R. Andrée, 1886, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17094966
Heinrich der Löwe, Gründer von Lübeck, München und Schwerin
Das Haus der Welfen ist eines der ältesten bis heute existierenden Hochadelsgeschlechter Europas und Heinrich der Löwe, sein prominentester Vertreter, gründete als Herzog von Baiern und Sachsen die Städte Lübeck (1143), München (1158) und Schwerin (1164), er baute Braunschweig zu einer repräsentativen Residenz aus, indem er dort die Burg Dankwarderode und der Stiftskirche St. Blasii errichtete, darüberhinaus war er Bauherr der Dome von Ratzeburg, Schwerin und Lübeck und Auftraggeber für das oben erwähnte kostbare Evangeliar, das nach ihm benannt wurde.
St. Blasii-Dom, Braunschweig
Braunschweiger Löwe vor dem Ratzeburger Dom
Lübecker Dom
Heinrich der Löwe vs. Friedrich Barbarossa
Im 12. Jahrhundert entbrannte im Heiligen Römischen Reich ein Machtstreit zwischen den Welfen und Staufern.
Die Macht der Welfen war mit der Größe ihres Territoriums so gewachsen, dass sie königsgleich regierten und wegen ihrer Größe letztendlich die Königskrone Deutschlands und damit den Kaisertitel über das Heilige Römische Reich begehrten.
(Wenn du wissen willst, wie man König von Deutschland und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs wurde, klick hier. Auf der Seite über Frankfurt steht es genauer.)
Aber auch die Staufer wollten die Krone. Sie hatten enge verwandtschaftliche Beziehungen zum Kaiserhaus der Salier. Als der letzte salische Kaiser starb, waren die Staufer am Zug.
Die beiden wichtigsten Kontrahenten waren Heinrich der Löwe und der Stauferkaiser Friedrich I., genannt Barbarossa.
Beim Streit um die Vormachtstellung im Heiligen Römischen Reich hatten nicht nur die Staufer, sondern auch kleinere Fürsten im Reich wenig Interesse an einer Übermacht der Welfen. Da die Thronfolge in deutschen Landen nicht durch Erbrecht, sondern Wahlen geregelt wurde, waren solche Angelegenheiten in der Regel von Politik, Kalkül und Taktik bestimmt.
Die Staufer gewannen letztendlich, aber nicht durch Kriege und Schlachten, sondern indem den Welfen 1180 die Reichslehen Sachsen und Baiern aberkannt wurden.
Baiern ging 1180 an die Wittelsbacher, die das Land seitdem kontinuierlich bis 1918, also dem Ende der Monarchien in Deutschland, regierten, Sachsen wurde 1180 aufgeteilt, der westliche Teil (Westfalen) ging an das Erzbistum Köln, der östliche Teil ging später in Anhalt und Brandenburg auf.
Über Heinrich den Löwen wurde die Reichsacht verhängt. Er verbrachte diese Zeit in England bei seinem Schwiegervater, dem König von England. Später kehrte er zurück und verbrachte den Rest seines Lebens auf dem übrig gebliebenen Territorium der Welfen, das sie durch Erbschaft von Wulfhild von Sachsen besaßen - die Gebiete um Braunschweig, Lüneburg und Wolfenbüttel.
Das Territorium und die Macht der Welfen waren extrem verringert worden.
Stammesherzogtum Sachsen vor der Zerschlagung 1180. Orange sind die Eigengüter Heinrichs des Löwen, die 1235 die Grundlage des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg bildeten.
Eingescannt und leicht bearbeitet (überflüssigen Text entfernt) durch commander-pirx - (Editor und Herausgeber) Eduard Rothert: Kartenmaterial in Karten und Skizzen aus der Entwicklung der größeren deutschen Staaten,Band VI des "Historischen Kartenwerkes", Teil a) Nord- und Mitteldeutschland,Düsseldorf 1902,, PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=6471332
Es ist fast verwunderlich, dass Heinrich der Löwe im historischen Bewusstsein so präsent ist, denn im Grunde konnte er sich nicht durchsetzen und hat ziemlich viel verloren. Aber vermutlich sind der Machtstreit sowie seine kulturellen Leistungen als Stadtgründer, Bauherr und Kunstmäzen ausschlaggebend für seine Stellung in der deutschen Geschichte.
Was übrig blieb:
Das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg
Der Welfisch-Staufische Streit wurde endgültig beigelegt, als Otto das Kind, ein Enkel Heinrichs des Löwen, 1235 mit dem Herzogtum Braunschweig-Lüneburg belehnt wurde.
Der Doppelname des Herzogtums kam durch die beiden Burgen in Braunschweig und Lüneburg einschließlich der dazugehörigen Rechte zustande. Unter Ottos Söhnen Albrecht und Johann wurde 1269 das Herzogtum in Lüneburg und Braunschweig geteilt. Dennoch behielt man in Lüneburg den Doppelnamen Braunschweig-Lüneburg bei, da die Burg Dankwarderode beiden Brüdern zugeteilt worden war und mit der Braunschweiger Burg die Herzogswürde verbunden war.
Die weitere Geschichte des Herzogtums ist von Teilungen und Zusammenführungen geprägt.
Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel
Im 15. Jahrhundert verlegte die Braunschweiger Linie ihre Residenz von Braunschweig nach Wolfenbüttel, aber nicht freiwillig, sondern weil die Spannungen zwischen den Herzögen und den Bürgern in der Stadt gewachsen waren. Die Residenz in Braunschweig ging verloren und die Herzöge nannten sich fortan Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel, benannt nach der neuen Residenzstadt. Im Dreißigjährigen Krieg starb die bisherige Linie Braunschweig-Wolfenbüttel aus und wurde fortgesetzt von Herzog August von Lüneburg-Danneberg, der eine neue Linie von Braunschweig-Wolfenbüttel begründete. Unter ihm erreichte Wolfenbüttel seine größte Blüte und er richtete die Herzog-August-Bibliothek ein, die die größte ihrer Art im damaligen Europa war.
Die Stadt Braunschweig war seit dem Weggang der braunschweigischen Herzöge unabhängig, aber 1671 gelang es den Welfenherrschern mit einer vereinten Armee die Stadt zurückzuerobern, was ein großer Erfolg und langgehegter Traum der Welfen war, da an der Burg die Herzogswürde hing und Braunschweig ein Identifikationsort für die Dynastie war.
Danach zogen die Herzöge zurück in die Burg Dankwarderode, was für Wolfenbüttel einen erheblichen Aderlass bedeutete, denn viele Bewohner Wolfenbüttels zogen mit in die neue Residenzstadt, so dass die Einwohnerzahl Wolfenbüttels von 12.000 auf 7000 sank.
Braunschweig
Bisher viel Geschichtliches, viel Dynastisches, aber wo fängt man an, wenn man die Stadt erkunden will?
Am besten am Burgplatz, dem weltlichen und geistlichen Zentrum der Stadt.
Der Burgplatz
Der Braunschweiger Löwe
Mitten auf dem Burgplatz steht die Bronzeplastik des Braunschweiger Löwen auf einem Sockel. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Wölfin in den Kapitolinischen Museen in Rom hat, die Romulus und Remus säugt.
Man kann davon ausgehen, dass Heinrich der Löwe die römische Wölfin bei einem seiner Italienfeldzüge sah, die er mit Barbarossa unternahm.
Löwen stehen für Macht, Rom steht für imperialen Anspruch. Vermutlich hat Heinrich dieses Tier gewählt und in Bronze gießen lassen, weil er damit seinen Machtanspruch gegenüber dem Stauferkaiser Barbarossa demonstrieren wollte.
Der Löwe entstand in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, er ist 880 Kilo schwer, 1,75 hoch und 2,79 lang.
Interessanterweise stand er noch bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts als Originalplastik aus dem 12. Jahrhundert auf dem Burgplatz in Braunschweig.
Einzig während des 2. Weltkriegs wurde er weggeschafft. Aber nicht sofort, sondern erst ab 1943. Bis dahin war er völlig ungeschützt in der Stadt, die wegen ihrer Rüstungsindustrie ein bevorzugtes Ziel der Alliierten war, so dass über vierzig Luftangriffe auf Braunschweig geflogen wurden.
Schließlich wurde der Löwe doch abgebaut und für den Rest des Krieges im Bergwerk Rammelsberg in Goslar (das heute übrigens Weltkulturerbe ist. Willst du mehr über das Bergwerk wissen? Klick hier. Auf der Seite über den Harz findest du mehr.) versteckt, wo er in einem entlegenen Stollen eingemauert den Krieg überstand. Eigentlich sollte er nicht nach Goslar, sondern nach Schlesien in Sicherheit gebracht werden. Dort wäre er 1945 in die Hände der Roten Armee gefallen. Dann würde er sicherlich heute in Moskau stehen, denn die Sowjets hatten damals alle Kunstschätze, die sie in Deutschland bekommen konnten, in die großen Museen nach Moskau und Leningrad gebracht. Anfang der 50er Jahre gaben sie viele dieser erbeuteten Schätze zurück an den sozialistischen Bruderstaat DDR, darunter die Sammlung der Nationalgalerie in Berlin, die Gemäldegalerie in Dresden, den Pergamonaltar usw. Kunstschätze, die aber aus Museen aus den westlichen Territorien Deutschlands stammten und während des Kriegs auf östlichem, von den Sowjets erobertem Territorium versteckt wurden, so wie es beinahe auch dem Braunschweiger Löwen ergangen wäre, wenn er nach Schlesien ausgelagert worden wäre, blieben in Moskau.
Übrigens ist genau dieses Schicksal einigen anderen Kunstschätzen widerfahren wie dem "Schatz des Priamos" aus dem antiken Troja und dem "Schatz der Merowinger", die beide in Berlin zum Museum für Völkerkunde gehörten. Diese Schätze waren im Krieg im Flakturm am Zoo untergebracht. Berlin wurde von den Sowjets eingenommen, die Kunstschätze gelangten nach Moskau und da das Museum für Völkerkunde nach der Teilung Berlins auf West-Berliner Gelände lag, wurden die Schätze nicht dem westlichen Feind zurückgegeben, sondern verblieben im Puschkin-Museum, wo sie heute zu sehen sind.
Der Braunschweiger Löwe kehrte nach dem Krieg wieder zurück in die Stadt. Die Rückkehr wurde, wie Tagebucheinträge des damals zuständigen britischen Kunstschutzoffiziers Robert Lonsdale Charles wiedergeben, von der Braunschweiger Bevölkerung mit Freude aufgenommen. Menschenmassen wohnten dem Ereignis bei, streichelten die Plastik, hoben ihre Kinder hoch, damit sie den Löwen sehen konnten. Charles war, wie er schrieb, von diesem Ereignis gerührt. Erst in den 80ern wurde die Plastik durch eine Replik ersetzt. Das Original befindet sich heute nebenan in der Burg Dankwardsrode. Übrigens war während des Krieges im Bergwerk in Goslar nicht nur der Löwe untergebracht, sondern auch der siebenarmige Leuchter sowie das Imervard-Kreuz aus dem Dom und Heinrichs und Mathildes Sarkophag.
Von dem Löwen gibt es heutzutage etliche Repliken. Ein Löwe steht vor dem Ratzeburger Dom, jeweils einer vor der Kaiserpfalz in Goslar, vor dem Schweriner Dom, vor dem Dom in Lübeck, einer in Harvard in den USA und einer im Victoria-and-Albert-Museum in London.
Interessanterweise gibt es diverse Braunschweiger Löwen in der angelsächsischen Welt, was auf die Verbindung der Sachsen mit den Briten zusammenhängt: Angelsachsen, House of Hanover, auch die heutigen Nachfolger der Welfen wie Ernst August von Hannover und sein Sohn sind nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern zugleich auch österreichische und britische. (Willst du mehr über die Verbindungen von Hannover nach England wissen? Klick hier.)
Burg Dankwarderode
Burg Dankwarderode am Burgplatz
Die Burg Dankwarderode liegt auf östlicher Seite des Platzes. Sie sieht aus wie eine Pfalz und tatsächlich war die Kaiserpfalz von Goslar Vorbild, wodurch Heinrich der Löwe seinen Machtanspruch ausdrücken wollte. (Wenn du wissen willst, wie die Kaiserpfalz in Goslar aussieht, klick hier.)
Heute sieht man am Burgplatz nur noch den Palas der ehemaligen Burg. Im 13. Jahrhundert brannte sie während eines Stadtbrandes ab, in der Renaissance wurde sie umgebaut, Anfang des 17. Jahrhunderts verlegte Herzog August seine Residenz nach Wolfenbüttel, die Burg verfiel. Teile der Burg wurden abgetragen, so dass nicht viel außer dem Palas übrig blieb.
Erst im 19. Jahrhhundert, dem Jahrhundert des Mittelalterkults, wurde die Burg rekonstruiert als neoromanischer Bau, der sich nach weitgehenden Forschungen an der Burg Heinrichs des Löwen orientiert.
Dom St. Blasii
Auf der Südseite des Burgplatzes befindet sich der St.-Blasii-Dom, den Heinrich für sich und seine Frau Mathilde von England als Grablege erbauen ließ.
St.-Blasii-Dom
Das Grabmal befindet sich im Inneren des Doms, darauf sieht man Heinrich und Mathilde als Steinskulptur; er hält ein Modell des Braunschweiger Doms in der Hand. Darin liegen die beiden aber nicht, ihr eigentlicher Sarkophag befindet sich in der Krypta des Doms, der Grablege der braunschweigischen Welfen.
Grabmal Heinrichs des Löwen und seiner Frau Mathilde von England im Dom St. Blasii
Krypta mit der Welfengruft
Blick in die Apsis im Dom St. Blasii
Apsis und Chorgewölbe des St. Blasii-Dom
Nördliches Seitenschiff St. Blasii
Der Welfenschatz
eine spannende Geschichte
Der bereits oben erwähnte Welfenschatz ist einer der bedeutendsten Kirchenschätze des Mittelalters, bestehend aus Arbeiten vom 11. - 15. Jahrhundert, er umfasst heute noch 44 Werke von ehemals 82. Er war der Schatz der Stiftskirche St. Blasii, dem Repräsentationszentrum von Heinrich dem Löwen. Der Wert des heute noch verbliebenen Teils des Schatzes wird auf 200 Millionen Euro geschätzt. Die 44 übrig gebliebenen Teile findet man aber heutzutage nicht mehr in Braunschweig, sondern in Berlin.
Aber ganz von vorn:
1929 verkaufte Herzog Ernst August von Braunschweig-Lüneburg den Schatz , da den Welfen nach der Revolution von 1918 und dem damit einhergehenden Ende des Adels in Deutschland die Einkunftsquellen abhanden gekommen waren und sie Geld brauchten. Zuvor waren Verhandlungen über den Verkauf an Museen oder die Stadt Hannover gescheitert, da auch an diesen Stellen die Finanzlage mehr als klamm war. Man muss bedenken, dass der Erste Weltkrieg verloren war, Reparationszahlungen, festgelegt durch den Versailler Vertrag, Wirtschaftssanktionen usw. einfach kein Geld für einen solchen Schatz übrig ließen
Schließlich kaufte ein Konsortium von Kunsthändlern den Schatz, die
ihn in den Städten Frankfurt, Berlin und in den USA zeigten, nicht im Sinne einer kuratorischen Tätigkeit, sondern um ihn zu verkaufen, was mit 38 Exponaten, also ungefähr der Hälfte geschah. Die meisten verkauften Stücke befinden sich heute im Cleveland Museum in Ohio und im Art Institute of Chicago. (Eine Liste mit allen Teilen des Schatzes vor 1929 sowie deren heutige Aufbewahrungsorte findest du hier.) Die Kunsthändler gerieten infolge der Weltwirtschaftskrise in finanzielle Not und angesichts des bedrohlicher werdenden antisemitischen Klimas in Deutschland verkauften sie den Schatz 1935 an den pro forma noch existierenden Staat Preußen. Für die Regierenden der NS-Diktatur war dieser Kunstkauf ein Akt mit hoher symbolischer Wirkung, da der Schatz nach "Irrfahrten durch die neue Welt" nun "für die deutsche Heimat gerettet" worden war. Der Zweite Weltkrieg begann, der Schatz wurde zum Schutz ausgelagert, danach von Amerikanern beschlagnahmt und später treuhänderisch zurückgegeben, er ging ein in die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die ihn zunächst in der Burg Dankwarderode im Braunschweiger Zentrum zeigte, bis er gegen heftigen Widerstand der Stadt Braunschweig sowie des Landes Niedersachsen nach Berlin geholt wurde, wo er seitdem im Museum für Kunstgewerbe zu sehen ist.
Siebenarmiger Leuchter und Marienaltar mit Vierung und Apsis im Hintergrund
Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende, denn die Nachfahren der jüdischen Kunsthändler wollen den Rest des Schatz zurück haben, da es sich, so argumentieren sie, um einen Zwangsverkauf handelte. Also klagten sie bis vor das höchste amerikanische Gericht, den Supreme Court, der am 3. Februar 2021 einstimmig befand, dass dies eine Angelegenheit sei, die nicht von einem amerikanischen, sondern nur von einem deutschen Gericht entschieden werden kann. Nach dem derzeitigen Stand wissenschaftlicher Forschung gab es keinen Zwang zum Verkauf des Schatzes und der Kauf wurde ordentlich durchgeführt. Vermutlich wird der Schatz zukünftig in Berlin bleiben.
Braunschweig heute
Die Stadt wurde im Krieg schwer getroffen, da sie Industrie-, Rüstungs- und Forschungsstandort war, so dass weite Teile nach dem Krieg zerstört waren. Beim Wiederaufbau der Stadt wurde das Konzept verfolgt, sogenannte Traditionsinseln anzulegen, punktuelle städtebauliche, historisch nachempfundene Ensembles, die den nachfolgenden Generationen eine Vorstellung von der ehemaligen Stadt geben können. Dieses Konzept wurde kontrovers diskutiert, es wurde ausgeführt, wobei im Nachhinein noch vieles zerstört wurde, was man hätte retten können. Da man sich ja auf die Traditionsinseln konzentrierte, wurde der Rest dem Abriss freigegeben. An den erhalten gebliebenen Plätzen bekommt man heute durchaus eine Idee davon, wie Braunschweig einst aussah, obwohl manches Gebäude nicht am ursprünglichen Ort steht, sondern an seinen neuen Platz versetzt wurde. Der Vorwurf, ein Freilichtmuseum gestaltet zu haben, wurde laut.
Braunschweiger Rathaus
Residenzschloss
Das Schloss wurde ebenfalls so stark zerstört, dass man einen Wiederaufbau in den 50er Jahren verwarf und es gegen den Widerstand vieler Braunschweiger abriss. Hinter dem Schloss gab es den Schlosspark, der aber mittlerweile verschwunden ist, da dort ein Einkaufzentrum, die Schlossarkaden, errichtet wurde. 2007 wurden die Arkaden eingeweiht. Die Fassade des Residenzschlosses wurde rekonstruiert, aber sie wirkt heute etwas verloren zwischen der übrigen 60er Jahre-Bebauung.
wiederaufgebaute Fassade des Schlosses
Die historischen Viertel
Wie bereits oben erwähnt, hat man beim Wiederaufbau der Stadt beschlossen, fünf sogenannte Traditionsinseln zu bilden, die einen Eindruck des historischen Stadtbildes vermitteln sollen. Diese fünf sind das
Aegidienviertel, der Altstadtmarkt, der Burgplatz, das Magniviertel und das Michaelisviertel. Die einzelnen Viertel und Plätze sind beeindruckend, aber als Tourist hat man durch das Inselkonzept den Nachteil, dass man die teilweise langweilig wiederaufgebaute Stadt durchqueren muss, um von Insel zu Insel zu gelangen, was den guten Eindruck abschwächt, den die Inseln vermitteln. Ein geschlossenes, historisches Stadtbild vermittelt Braunschweig nicht.
Wenn man kein historisches Interesse z.B. an Heinrich dem Löwen und seiner Zeit hat, sondern sich lieber ein geschlossenes mittelalterliches Stadtbild ansehen will, sind vermutlich Goslar, Celle oder Wolfenbüttel, mit denen Braunschweig vielleicht Ähnlichkeit hatte, geeigneter.
Schade, wenn man bedenkt, dass es sich ehemals um eine seit dem Mittelalter über Jahrhunderte gewachsene Stadt handelte.
Magniviertel
Mutter Habenicht, traditionelles Gasthaus
Typische Braunschweiger Spezialität: Kartoffelschnaps mit kleinem Kartoffelpuffer
Wolfenbüttel
Es gibt einiges zu sehen in Wolfenbüttel: Zum einen das Schloss, das immerhin das zweitgrößte Niedersachsens ist; hier residierten die Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel. Dann sollte man die Herzog-August-Bibliothek besuchen, die in ihrer Zeit als Achtes Weltwunder gepriesen wurde. Übrigens war niemand Geringeres als Gotthold Ephraim Lessing der Leiter der Bibliothek und schrieb in Wolfenbüttel unter anderem sein Hauptwerk "Nathan der Weise", mit dem seit Generationen Schüler im Deutschunterricht gequält werden. Außerdem gibt es noch die pittoreske Altstadt, die im Krieg unversehrt blieb, mit hunderten Fachwerkhäusern und zwei Kirchen, die man besonders hervorheben sollte: Die Hauptkirche Beatae Mariae Virgines, der allererste protestantische Großbau mit der Gruft der Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel; auch der Kapellmeister Praetorius liegt in dieser Kirche begraben. Die zweite Kirche ist St. Trinitatis, einer der bedeutendsten Barockbauten Deutschlands, an dem man alle Prinzipien protestantischer Sakralarchitektur ablesen kann.
Herzog-August-Bibliothek
Herzog-August Bibliothek
August der Jüngere (1579 - 1666), nach dem die Bibliothek benannt ist, stammte aus der Celler Linie der Welfen und hatte eigentlich überhaupt keine Chance Herrscher eines Fürstentums zu werden. Als aber die braunschweigische Linie nach dem Dreißigjährigen Krieg ausgestorben war, gab es einen Erbfolgestreit, den August für sich entscheiden konnte.
Schon zuvor, als er noch bescheiden in Hitzacker an der Elbe residierte, sammelte der weitgereiste, gebildete und studierte Mann Bücher. Ganz dem Geiste seiner Zeit entsprechend, sammelte er das Wissen der Welt, vermutlich um als Kenner und Beherrscher dieses Weltwissens den Anspruch seiner Herrschaft abzuleiten, so wie es im Zeitalter der Renaissance alle taten. Die einen sammelten Kuriositäten und naturwissenschaftliche Objekte, Naturalia, Exotica aus den neu entdeckten Erdteilen, die anderen sammelten das Weltwissen in Büchern. Die Renaissance war das Zeitalter, in dem sich die Leidenschaft für das Wissen über die Welt in exzessiver Sammelleidenschaft ausdrückte. Die wissenschaftliche Durchdringung der Schöpfung und das Verständnis für das Werk Gottes trieben die Fürsten an, denn wer die Schöpfung verstand, war schon fast gottgleich. Aus diesem Sammelbedürfnis entwickelten sich viele großartige Sammlungen unserer heutigen Zeit oder die Sammlungen bildeten die Keimzellen für spätere Museen.
Die Bibliothek sieht auf den ersten Blick nicht so feierlich, und überwältigend aus wie z.B. barocke Stiftsbibliotheken im süddeutschen Raum, z.B. St. Gallen oder Admont oder wie die Anna-Amalia- Bibliothek in Weimar. Von außen ist sie ein historistischer Bau mit neoklassizistischen Elementen, der Ehrfurcht vor klassischer Bildung vermittelt, im Inneren wirkt sie teilweise recht modern für eine Bibliothek, die mittelalterliche Schätze aufbewahrt, vor allem wegen ihrer relativ neuen Möblierung aus den 70er Jahren. Fast alle Buchrücken sind cremefarben, weiß, manche braun oder beige. Der dominierende Ton in allen Regalen ist Cremeweiß. Die Höhe der Bücher in jeder der drei Etagen ist annähernd gleich. Darüber erhebt sich eine dunkle Decke und die Bücher werden indirekt angeleuchtet, so als gehe von ihnen eine erhellende Strahlkraft aus, die Licht ins Dunkel bringt.
August hatte bereits in Hitzacker einen Katalog angelegt, ein Rad mit sechs Büchern, das heute in der Bibliothek zu besichtigen ist.
Heute ist die Bibliothek eine Forschungsstätte von internationalem Rang mit einem Bestand von ca. 1 Million Bänden, davon 350.000 Bücher aus dem 15. - 17. Jahrhundert. In mehreren Räumen wie der Augusteerhalle, der Schatzkammer, dem Globensaal, dem Kabinett und dem Malerbuchsaal sind die Schätze zu betrachten.
Den Höhepunkt bildet zweifelsohne das Evangeliar Heinrichs des Löwen, das, wie gesagt, 1982 für 32,5 Million Mark in London erstanden wurde.
Weitere Handschriften-Schätze sind:
Der Codex Guelferbytanus A und Codex Guelferbytanus B, eine griechische Handschrift des Neuen Testaments aus dem 5. Jahrhhundert.
Der Corpus agrimensorum Romanorum, ein Fachbuch für römische Landvermesser aus dem 6. Jahrhhundert.
Die Annales guelferbytani, Reichsannalen des Fränkischen Reichs aus dem 9. Jahrhhundert
Das Capitulare de villis, das einzige Exemplar der Landgüterverordnung, die Karl der Große über die Verwaltung der Krongüter erließ.
Das Bernwardspsalter, eine kostbare liturgische Handschrift aus dem 11. Jahrhhundert
Der Sachsenspiegel als vergoldete Bilderhandschrift aus dem 14. Jahrhundert
usw.
Die Besichtigung der Bibliothek sollte man im Rahmen einer Führung machen.
Katalog der Bibliothek, angelegt von Herzog August
Lessinghaus
Schloss Wolfenbüttel
Hauptkirche Beatae Mariae Virginis
Gesetz-und-Gnade-Bild von Vredeman de Vries, Kirche Beatae Mariae Virginis, Wolfenbüttel
In der Kirche Beatae Mariae Virginis findet man im Chorbereich das obige Gemälde von Vredemann de Vries, das als Beispiel eines Gesetz-und-Gnade-Bilds besondere Aufmerksamkeit verdient. Dieses Genre wurde in der Cranach-Schule häufig gemalt und hier von de Vries auf seine Weise interpretiert. Dargestellt ist eine Allegorie, die den reformatorischen Gedanken Luthers aufgreift, dass allein der Glaube des Einzelnen zur Erlösung führt.
Gesetz-und Gnade-Bilder sind antithetisch aufgebaut, so auch hier, indem das dargestellte Kreuz das Gemälde in zwei Hälften mit gegensätzlichen Aussagen einteilt.
Auf der linken Seite ist das Gesetz zu erkennen, verkörpert durch Moses, der vom Berg Sinai kommend, die Gesetzestafeln in der Hand hält. Das Gesetz bestimmt darüber, wer letztendlich in die Hölle fährt und wer erlöst wird. Bei den meisten Gesetz-und-Gnade-Bildern wird der sündige Mensch dargestellt, wie er von Tod und Teufel in die Hölle getrieben wird. Darauf wurde bei diesem Bild verzichtet, aber Moses hält in der linken Hand ein Schwert, mit dem gerichtet wird. Sein Blick ist auf den Bildbetrachter gelenkt und kann als mahnender, vielleicht beobachtender Blick gedeutet werden. Die Sünde auf der linken Seite wird durch Eva dargestellt, die den Apfel vom Baum der Erkenntnis gekostet hat. Sie hat Attribute der Wesen der Finsternis - Hörner, Drachenflügel und ihr schlangenartiger Körper windet sich um das Kreuz.
Jesu Blick ist in die rechte Bildhälfte gerichtet, wo die Gnade zu sehen ist. Der Mensch, hier verkörpert durch den vor dem Kreuz knienden Mann, vermutlich Adam, obwohl er bekleidet ist, wendet sich Jesus zu und erfährt dadurch Gnade, ganz egal welche Sünden er begangen hat. Rechts von ihm ist Johannes der Täufer zu sehen. Er weist auf Jesus und hält das Evangelium in der Hand, der Text, auf den sich die Protestanten berufen.
Welfengruft in der Kirche Beatae Mariae Virginis
St.-Trinitatis-Kirche - was macht eine evangelische Kirche aus?
St.-Trinitatis-Kirche, Wolfenbüttel
Nach dem Besuch der Hauptkirche lohnt sich noch ein Besuch der Kirche St. Trinitatis. Auffällig ist die breite Front des Gebäudes.
In vorreformatorischer Zeit waren Kirchen als Längsbauten konzipiert. Die Längsrichtung des Kirchenschiffs wies auf den liturgischen Bereich im Osten, auf den Altar, wo die Eucharistie gefeiert wird, der wichtigste Moment im katholischen Gottesdienst, mit dem das Heilsereignis des Lebens und Sterbens und die Wiederauferstehung Christi gefeiert werden.
Ganz anders sieht es in der evangelischen Kirche aus. Dort steht das Wort, die Bibel im Mittelpunkt. Für evangelische Christen ist dies der einzige Bezugspunkt, auf den sie sich berufen.
In der evangelischen Kirchenarchitektur versucht man der zentralen Bedeutung des Wortes gerecht zu werden, indem man statt Längsbauten Zentralbauten bevorzugt. Die Gemeinde sitzt darin angeordnet wie in einem Plenarsaal und hat dadurch eine größere Nähe zum Wort des Pfarrers. Bekannte Beispiele dafür sind die Frauenkirche in Dresden, die Bergkirche in Seiffen oder die Paulskirche in Frankfurt, die sogar tatsächlich als Plenarsaal für die erste Nationalversammlung diente, die erste Volksvertretung für ganz Deutschland. Es gibt auch Querbauten wie z.B. die Trinitatiskirche in Wolfenbüttel oder die Petrikirche in Ratzeburg, die ebenfalls aus dem Gedanken heraus entstanden, dass ein Längsbau zu viel Distanz zum Wort des Pfarrers auf der Kanzel schafft.
Der Zentralbau wurde erst nach der Reformation richtig populär, auch wenn es bereits Vorbilder im byzantinischen Kirchenbau gab, die vereinzelt im frühen Mittelalter bis nach Ravenna und Aachen ausstrahlten. Im hohen Mittelalter waren Längsbauten angesagt und wenn nach der Reformation eine mittelalterliche Kirche protestantisch wurde, weil sich der Landesherr dem protestantischen Glauben anschloss, blieb sie natürlich ein Längsbau.
Emporen für Gemeindemitglieder sind ebenfalls ein Merkmal evangelischer Kirchen, auch sie ermöglichen eine größere Nähe zum Pfarrer, keinesfalls haben sie etwas mit einem Rang oder gar der Trennung der Geschlechter zu tun.
Die Kanzel, von der gepredigt wird, befindet sich oft über dem Altar, wodurch die Predigt über die Eucharistie gesetzt wird.
Auch eine Kirche als Gebäude ist bei den Evangelischen generell weniger wichtig als das Bekenntnis des einzelnen zu Gott. Im Matthäusevangelium heißt es: "Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." Gottesdienste können auch ohne Pfarrer und auch an jedem beliebigen Ort gefeiert werden, gegebenenfalls in Privaträumen oder auf einer Wiese.
Bei den Evangelischen sind der Gemeindegedanke und der Kirchengedanke wenig getrennt, was sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Architektur dahingehend zeigte, dass Gemeindezentren mit einem Raum für Gottesdienste errichtet wurden. Damit wandte man sich von der Sonntagskirche ab, hin zu einer Alltagskirche, in der auch das Gemeindeleben stattfindet.
In manchen Freikirchen äußern Gemeindemitglieder während des Gottesdienstes ihre Gedanken gleichberechtigt ohne hierarchische Strukturen, was solide Bibelfestigkeit voraussetzt, die die Mitglieder von Freikirchen in der Regel haben.
Im 19. Jahrhundert gab es Diskussionen über die Bau-Konzeption, nach denen man sich wieder mehr am Mittelalter orientierte, so dass manche neu gebauten protestantischen Kirchen einem neo-mittelalterlichen Längsbau ähnelten. Hinter dieser Konzeption standen weniger theologische als nationale Gedanken, indem man an die Zeiten des Kaiserreichs anknüpfen wollte.
Prunk und Reichtum wurde in der evangelischen Kirche abgelehnt, was dazu führte dass die Gebäude generell nüchtern wirken, was viele - auch manche Evangelische - weniger ansprechend finden. Natürlich gibt es davon Ausnahmen und nicht jede evangelische Kirche ist schlicht, manche ist sogar besonders üppig ausgestattet, z.B. die Frauenkirche in Dresden, die in vollem Barock errichtet wurde oder der Berliner Dom. Als Residenzstädte brauchten Dresden und Berlin repräsentative Bauten, wofür Schlichtheit einfach nicht gut geeignet ist. Trotzdem ist die Dresdner Frauenkirche in ihrer Konzeption durch und durch evangelisch.