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Vorläufiger Abschied von Schanghai

Der Lockdown nahm kein Ende. Das wäre zwar auszuhalten gewesen, allerdings kamen bei mir gesundheitliche Probleme hinzu, die sich nicht von selbst lösten.

Letztendlich entschied ich mich, nach Hause zu fliegen.

Nachdem diese Entscheidung gefallen war, beriefen meine Kollegen noch am späten Freitagabend eine Online-Sitzung mit der Schulleitung, der Parteisekretärin, der Fachbereichsleiterin und einigen anderen ein. Solche Sitzungen finden spontan statt - egal, ob es Freitagabend ist oder nicht. Mir war sichtlich peinlich, dass wegen mir eine Freitagsabendssitzung einberufen wurde, aber in China nimmt man das weniger schwer als bei uns. Sie sagen, es müsse eine Lösung gefunden werden - und zwar schnell. Es dauerte keine zwei Stunden und ein Flug war gebucht und ich musste mich um nichts kümmern.


Wenn in China eine Entscheidung gefallen ist, laufen die Prozesse so schnell ab, dass man als Deutscher kaum Luft holen kann. An einem Freitagabend würde in Deutschland ein Anliegen definitiv bis zum kommenden Montag Zeit haben. Dann würde man einen Termin mit den betreffenden Kollegen koordinieren, was in der Regel schon schwierig genug ist, und dann würde die Sitzung vermutlich Ende der Woche stattfinden. Mit chinesischer Organisation landete ich bereits am Montagmorgen um sechs Uhr in Deutschland und hatte in dieser Zeitspanne auch noch 12 Stunden Flug hinter mir. Zwischen meiner Entscheidung und dem Eintreffen in Deutschland waren 60 Stunden vergangen. Das ist rekordverdächtig.

Wenn man als Deutscher in China lebt, hat man irgendwann das Gefühl, dass Deutschland ein extrem langsames Land ist.


Hier ein letztes Foto von meinen beiden lieben Kollegen Thomas und Emma mit mir.



Ein Fahrzeug wurde extra für mich angefordert, der Fahrer bekam die schriftliche Genehmigung der Schulleitung und der Verwaltung, dass er mich durch die Stadt fahren durfte, für den Fall, dass wir an einer Kontrollstelle angehalten werden.

Nach Umarmung und Verabschiedung von meinen Kollegen ging es im Schutzanzug durch die fast menschenleere Stadt auf leeren zehnspurigen Autobahnen zum Flughafen.

Die Fahrt durch Schanghai Richtung Flughafen Pudong kam mir vor wie ein Traum oder wie ein Film - alles so fremd, so irreal.



Der Flughafen war still, das Gebäude war leer. An diesem Tag gab es nur einen einzigen Flug - von Schanghai nach Frankfurt.

Kein Geschäft war geöffnet, kein Snack, kein Getränk konnte gekauft werden.


Meine Kollegen nahmen die gesamte Zeit Anteil an meiner Abreise, verfolgten online, ob alles glatt lief und keine Schwierigkeiten entstanden, bis ich im Flugzeug saß.

Dahinter stehen Anteilnahme und Interesse. Chinesen wären in Europa sicher tief enttäuscht, wenn man sich nicht um sie kümmern würde und sie würden es für Kälte und Gleichgültigkeit halten. Für sie ist das Kümmern um den anderen eine Selbstverständlichkeit. Wir Europäer sind meistens auf uns selbst gestellt und empfinden es vielleicht sogar als Kontrolle, wenn andere zu sehr Anteil an einem Geschehen nehmen. Vielleicht ist es in China eine Mischung aus Anteilnehmen und Kontrolle. Wenn bei meiner Ausreise in Coronazeiten, in die viele Leute involviert waren, etwas schief gegangen wäre, hätte sich der Verantwortliche, dem die Abwicklung meiner Ausreise anvertraut wurde, rechtfertigen müssen, also hat er lieber die ganze Zeit im Blick, wofür man ihm die Verantwortung übertragen hat. In China ist jeder bestrebt, eine Aufgabe, die ihm gegeben wurde, erfolgreich und so gut wie möglich abzuschließen.


Eines meiner Ziele im Ausland war, Standpunkte zu relativieren und die Dinge aus anderer Perspektive zu sehen. Während dieser Erfahrung habe sicher am stärksten gemerkt, was unterschiedliche Standpunkte sind.


Eindrücke von einem der größten Flughäfen der Welt während des Lockdowns


Wir starteten auf die Sekunde pünktlich am Ostermontag um 00:05. Das Flugzeug war fast leer. Ca. zwei Drittel der Plätze waren nicht belegt. Trotzdem saßen fast alle Passagiere in nur einem Teil des Flugzeugs relativ dicht beieinander, während der gesamte mittlere Teil leer blieb.


Die Flugroute ging zunächst nach Norden über Sibirien und ich sah stundenlang einen Streifen heller Dämmerung am Horizont, da wir uns dem Polarkreis näherten und damit dem Polartag auf der Nordhalbkugel. Schließlich ging es wieder Richtung Süden, wir ließen die Dämmerung hinter uns und tauchten wieder in die Nacht ein. Als wir uns Frankfurt näherten, war es noch stockfinster.


Ich wurde in China sehr gut behandelt und habe wirkliche Gastfreundschaft erlebt, Interesse aneinander und Unterstützung in allen Belangen. Würde man z.B. in Deutschland für chinesische Kollegen das chinesische Neujahrsfest so organisieren und feiern, wie Weihnachten für uns europäische Kollegen gefeiert wurde?

Ich frage mich, wann ich zurück komme. Es gibt kaum Flüge nach China und wenn, dann sind es Charterflüge von der Deutschen Außenhandelskammer, die unfassbar teuer sind. Jetzt werde ich meinen Unterricht von Deutschland online fortsetzen, was ich die letzten Wochen ohnehin schon gemacht hatte wegen des Lockdowns.




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