Lange ist es noch nicht her, aber schon richtig Geschichte - die 90er Jahre in Schanghai.
Die Stadt hat sich in den letzten dreißig Jahren derart verändert, dass manche sie kaum wieder erkennen.
Heute applaudiert die Welt dem modernen Shanghai, besucht die Stadt, bestaunt Wolkenkratzer und Luxuskonsum, der nur an wenigen Orten auf der Erde so geballt in Erscheinung tritt wie hier. Selbst Leute, die noch vor 15 Jahren nie auf die Idee gekommen wären, nach China zu reisen, sind jetzt da, um zu sehen, wovon alle reden.
Etwas untergegangen durch den Boom ist das alte Schanghai.
Diesen Verlust spüren viele und dafür muss man nicht einmal alt sein, da die bisherigen Entwicklungen weniger als ein halbes Menschenleben dauerten.
2021 hat man in der modernen Raffles-Shopping-Mall am North Bund im Basement einen gastronomischen Bereich eingerichtet, in dem man das alte Schanghai erleben kann, den Shanghai City Mart. Man erreicht ihn mit der Metrolinie 12, Station: Tilanqiao.
Essensmöglichkeiten, Garküchen usw. reihen sich dort aneinander, dazwischen die dazugehörigen Sitzmöglichkeiten. Der Rest ist zweifellos Kulisse und viele Skeptiker werden den nörgelnden Vergleich mit Disneywelten anstimmen, aber offenbar gibt es ein Bedürfnis, das Alte zu erleben.
Und es ist anscheinend gut gemacht, denn viele Besucher fotografieren und filmen, Eltern zeigen ihren Kindern, was ein Telefon ist oder wie am Straßenrand Kastanien geröstet wurden und schon Mittzwanziger äußern sich, dass sie sich an ihre Kindheit erinnert fühlen und in so einer Umgebung aufgewachsen sind.
Auffällig finde ich als Besucher immer wieder die Bedeutung von Fahrrädern, Nähmaschinen, Telefonen, Radios und Warmhaltebehältern zum Transportieren von Essen, in Deutschland "Henkelmann" genannt. Fahrräder und Nähmaschinen waren in China noch sehr lange Statussymbole und dürften heute vielleicht einem Auto und einer Eigentumswohnung entsprechen.
Der gesamte Bereich ist nicht klein, sondern umfasst ca. 3000 qm. Es ist nicht nur ein Platz, um den alles angeordnet ist, sondern es wird der Charakter eines kleinen Viertels mit Straßen, Plätzen und Häusern vermittelt.
Und da gerade Winter ist, ist alles mit Schneedekor überzogen.
Mir fiel vor allem auf, dass vor dreißig Jahren ausschließlich chinesische Beschriftungen verwendet wurden. Pinyin wurde erst relevant mit dem Erlernen von Fremdsprachen und den Tastaturen von Schreibmaschinen.
Außerhalb dieses historisch gestalteten Bereichs dominiert in der Raffles-Mall die lateinische Schrift.
Aber die Welt der glitzernden Shopping Malls ist auch nur "ein" Teil Schanghais. Stadtteile, in denen die Entwicklung verzögerter abläuft, gibt es einige. Vor allem, wenn man das Stadtzentrum verlässt. Selbst downtown gibt es Viertel, die wegen ihrer besonders nostalgischen Atmosphäre unter Denkmalschutz gestellt wurden, wie z.B. Tianzifang.
Comments